Es war mir jüngst eine Freude, eine spekulative Beschreibung einer psychologischen Utopie zu erarbeiten, in der alle Menschen psychologisch gesund wären. Ich nenne dies Eupsychia. Daraus, was wir über gesunde Menschen wissen, könnten wir die Kultur voraussagen, die sie entwickeln würden. Wenn 1000 gesunde Familien in irgendein verlassenes Land emigrierten, wo sie ihr eigenes Schicksal bestimmen könnten, so wie es ihnen Spaß macht, nach Belieben? Welche Art von Erziehungen würden sie wählen? Welches ökonomische System, welche Sexualität, welche Religion?

Über einige Dinge bin ich mir recht unsicher - besonders über die ökonomischen. Doch anderer Dinge bin ich mir sehr sicher. Eine davon ist, daß es sich fast sicher um eine (philosophisch) anarchistische Gruppe handeln würde, eine taoistische, doch liebevolle Kultur, in der die Menschen (auch die jungen) viel mehr freie Wahl hätten, als wir es gewohnt sind, und in der die grundlegenden Bedürfnisse und die Metabedürfnisse weit mehr respektiert werden würden als in unserer Gesellschaft. Menschen würden sich nicht so umeinander kümmern wie wir es tun, wären weniger geneigt, Meinungen oder Religionen oder Geschmäcker in Kleidung oder Nahrung oder Kunst oder Frauen ihren Nachbarn aufzuzwingen. Mit einem Wort, die Einwohner von Eupsychia hätten die Tendenz, mehr taoistisch, nichteinmischend und Grundbedürfnisse befriedigend zu sein (wann immer es möglich wäre), würden nur unter gewissen Bedingungen frustriert sein, die ich zu beschreiben nicht versucht habe, würden zueinander ehrlicher sein und würden es anderen Menschen gestatten, wo immer möglich freie Wahl zu haben. Sie würden weit weniger kontrollieren, gewaltsam, verächtlich oder anmaßend sein. Unter solchen Bedingungen würden sich die tiefsten Schichten der menschlichen Natur leichter zeigen.

Ich muß darauf hinweisen, daß erwachsene Menschen einen Spezialfall darstellen. Die Situation der freien Wahl funktioniert nicht notwendigerweise für alle Menschen - nur für die intakten. Kranke, neurotische Menschen treffen die falsche Wahl; sie wissen nicht, was sie wollen, und auch wenn sie es tun, haben sie nicht den Mut, richtig zu wählen. Wenn wir von freier Wahl bei Menschen sprechen, beziehen wir uns auf gesunde Erwachsene oder Kinder, die noch nicht verkrümmt und verbogen sind.


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  Abraham H. Maslow, Motivation und Persönlichkeit,
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt,
Feb. 1981, S 315 f