Reflexionen von Erich
Fromm über "Haben oder Sein"
Die Existenzweise
des Habens, die auf Eigentum und Profit ausgerichtete Orientierung,
gebiert zwangsläufig das Verlangen nach Macht, ja die Abhängigkeit
von Macht. Es ist Gewaltanwendung nötig, um den Widerstand
eines Lebewesens zu brechen, das man beherrschen möchte.
Der Besitz von Privateigentum erfordert Macht, um es vor jenen
zu schützen, die es uns wegnehmen wollen, denn genau wie
wir bekommen auch sie nie genug. Der Wunsch, Privateigentum zu
haben, erweckt den Wunsch in uns, Gewalt anzuwenden, um andere
offen oder heimlich zu berauben. In der Existenzweise des Habens
findet der Mensch sein Glück in der Überlegenheit gegenüber
anderen, in seinem Machtbewußtsein und in letzter Konsequenz
in seiner Fähigkeit, zu erobern, zu rauben und zu töten.
In der Existenzweise des Seins liegt es im Lieben, Teilen, Geben.
(S. 83)
Technische Utopien, beispielsweise
das Fliegen, sind dank der neuen Naturwissenschaft verwirklicht
worden. Die menschliche Utopie des Messianischen Zeitalters
- eine vereinte neue Menschlichkeit, die frei von ökonomischen
Zwängen, Krieg und Klassenkampf in Solidarität und
Frieden miteinander lebt - kann Wirklichkeit werden, wenn wir
das gleiche Maß an Energie, Intelligenz und Begeisterung
dafür aufbringen, das wir für unsere technischen Utopien
aufwandten. Man kann nicht U-Boote bauen, indem man Jules Verne
liest; wir können keine humanistische Gesellschaft schaffen,
indem wir die Propheten lesen.
Ob uns eine solche Umorientierung vom Vorrang der Naturwissenschaft
auf eine neue Sozialwissenschaft glücken wird, kann niemand
vorhersagen. Wenn ja, dann haben wir vielleicht noch eine Überlebenschance,
aber nur unter der Voraussetzung, daß viele hervorragende
gut ausgebildete, geschulte und engagierte Männer und Frauen
sich durch die neue Herausforderung an den menschlichen Geist
aufgerufen fühlen - und durch die Tatsache, daß dieses
Mal das Ziel nicht Herrschaft über die Natur ist, sondern
Herrschaft über die Technik und über irrationale gesellschaftliche
Kräfte und Institutionen, die das Überleben der westlichen
Gesellschaft, wenn nicht gar der Menschheit bedrohen.
Es ist meine Überzeugung, daß unsere Zukunft davon
abhängt, ob das Bewußtsein der gegenwärtigen
Krise die fähigsten Menschen motivieren wird, sich in den
Dienst der neuen humanistischen Wissenschaft vom Menschen zu
stellen, denn nur ihren konzertierten Anstrengungen kann es gelingen,
die "unlösbaren" Probleme zu lösen.
Entwürfe mit so allgemein formulierten Zielen wie "Vergesellschaftung
der Produktionsmittel" waren sozialistische und kommunistische
Losungen, die davon ablenkten, daß der Sozialismus nirgends
verwirklicht war. Schlagworte wie "Diktatur des Proletariats"
oder einer "intellektuellen Elite" sind nicht weniger
nebulös und irreführend als das Konzept der "freien
Marktwirtschaft" oder gar der "freien" Nationen.
Die frühen Sozialisten und Kommunisten von Marx bis Lenin
hatten keine konkreten Pläne für eine sozialistische
oder kommunistische Gesellschaft; das war die große Schwäche
des Sozialismus. Neue Gesellschaftsstrukturen, die die Grundlage
des Seins bilden sollen, bedürfen vieler Entwürfe,
Modelle, Studien und Experimente, die geeignet sind, die Kluft
zwischen dem Möglichen und dem Notwendigen zu überbrücken.
Konkret bedeutet das, daß neben umfassenden, langfristigen
Planungen kurzfristige Vorschläge für erste Schritte
stehen müssen. Entscheidend ist der Wille und der humanistische
Geist derjenigen, die sie ausarbeiten; denn wenn Menschen eine
Vision haben und gleichzeitig erkennen, was Schritt für
Schritt konkret zu ihrer Verwirklichung getan werden kann, schöpfen
sie Mut, und ihre Angst weicht der Begeisterung.
Wenn Wirtschaft und Politik der menschlichen Entwicklung untergeordnet
werden sollen, dann muß das Modell der neuen Gesellschaft
auf die Erfordernisse des nicht-entfremdeten, am Sein orientierten
Individuums ausgerichtet werden. Das bedeutet, daß
Menschen weder gezwungen sein sollen, in entwürdigender
Armut zu leben -, noch durch die der kapitalistischen Wirtschaft
innewohnenden Gesetze, die eine ständige Zunahme der Produktion
und damit auch des Verbrauchs erfordern, zu einer Existenz als
Homo consumens verurteilt werden dürfen, wie dies
heute für die kaufkräftigen Schichten der Industriestaaten
zutrifft. Wenn die Menschen jemals freiwerden, das heißt
dem Zwang entrinnen sollen, die Industrie durch pathologisch
übersteigerten Konsum auf Touren zu halten, dann ist eine
radikale Änderung des Wirtschaftssystems vonnöten:
dann müssen wir der gegenwärtigen Situation ein Ende
machen, in der eine gesunde Wirtschaft nur um den Preis kranker
Menschen möglich ist. Unsere Aufgabe ist es, eine gesunde
Wirtschaft für gesunde Menschen zu schaffen. (S. 167 ff)
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Tätigsein
Die Voraussetzungen
für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit,
Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft. Ihr wesentlichstes
Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit,
sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, dem produktiven
Gebrauch der menschlichen Kräfte. (S. 89)
Zitate mit Seitenangaben
aus: Erich Fromm, Haben oder Sein, München: Deutscher Taschenbuch
Verlag, 12. Aufl., 1982 [ISBN 3-423-01490-3] |
Die Aussage,
etwas auf Dauer zu besitzen, beruht auf der Illusion einer unvergänglichen,
unzerstörbaren Substanz. Wenn ich alles zu haben scheine,
habe ich in Wirklichkeit - nichts, denn mein Haben, Besitzen,
Beherrschen eines Objektes ist nur ein vorübergehender Moment
im Lebensprozeß.
In letzter Konsequenz drückt die Aussage: "ich (Subjekt)
habe O (Objekt)" eine Definition meines Ichs durch meinen
Besitz des Objekts aus. Das Subjekt bin nicht ich selbst,
sondern ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet
mich und meine Identität. Der Gedanke, der der Aussage "ich
bin ich" zugrunde liegt, ist ich bin ich, weil ich X
habe; X sind dabei alle natürlichen Objekte und Personen,
zu denen ich kraft meiner Macht, sie zu beherrschen und mir dauerhaft
anzueignen, in Beziehung stehe.
In der Existenzweise des Habens gibt es keine lebendige Beziehung
zwischen mir und dem, was ich habe. Es und ich sind Dinge geworden,
und ich habe es, weil ich die Möglichkeit habe, es
mir anzueignen. Aber es besteht auch die umgekehrte Beziehung:
Es hat mich, da mein Identitätsgefühl bzw. meine
psychische Gesundheit davon abhängt, es und so viele Dinge
wie möglich zu haben. Die Existenzweise des Habens wird
nicht durch einen lebendigen, produktiven Prozeß zwischen
Subjekt und Objekt hergestellt. Sie macht Subjekt und Objekt
zu Dingen. Die Beziehung ist tot, nicht lebendig. (S. 80)
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