Die Erinnerung bleibt
Salzburger Nachrichten, 13. April 02
Alle fünf Minuten wird weltweit eine Frau vergewaltigt, alle sieben Sekunden eine Frau geschlagen. Jede fünfte Frau ist mindestens ein Mal in ihrem Leben vergewaltigt worden, und jedes vierte Mädchen ist in der Kindheit von sexueller Gewalt bedroht. Erschütternde Zahlen, bitter, aber wahr. Die Dunkelziffer ist nur schwer vorstellbar. Und Missbrauch ist nicht heilbar.
von URSULA SCHUPFER
Laut UNICEF-Berichten ist der zentrale Ort der Angriffe auf Frauen ihr Zuhause. Der Raum, in dem sich Frauen eigentlich geschützt fühlen sollten. Doch während Frauen in der Öffentlichkeit durch Gesetze immer stärker geschützt werden - zumindest in der so genannten westlichen, zivilisierten Welt - verlagert sich die Gewalt gegen Frauen und Mädchen mehr und mehr ins Private. Und das, was hinter dicken Mauern in Häusern, Wohnungen, Jugendgruppen passiert, bleibt oft und lange verborgen. Die "Überlebenden", wie sich die Betroffenen nennen, die Opfer sexueller Gewalt, verfügen nicht über so subtile Strategien wie die Täter, sondern gelten oft als seltsam, verwahrlost oder "ein bisschen daneben".
Missbrauch bricht in verschiedenen Formen aus. Es ist nicht von Bedeutung, ob die Frau, das Mädchen tatsächlich sexuell penetriert wurde oder "nur" orale Befriedigung oder sexuell motivierter Voyeurismus stattgefunden hat. Von Bedeutung jedoch ist, dass die sexuelle Handlung gegen den Willen der Frau oder des Mädchens vollzogen wurde und von ihr als Missachtung und Enteignung ihres Körpers empfunden wurde. Sexueller Missbrauch beginnt dort, wo die Grenzen der Frau oder des Kindes verletzt werden. Und Missbrauch unterscheidet sich auch vom Begriff Vergewaltigung. Während eine Vergewaltigung zumeist ein einmaliges Geschehnis ist, findet sexueller Missbrauch immer wieder und meistens über einen längeren Zeitraum statt.
Missbrauch wird langfristig geplant
Jeder sexuelle Übergriff eines Erwachsenen oder überlegenen Jugendlichen (sexuelle Missbraucher) sind zu 90 % Männer) gegenüber einem Mädchen oder Buben (es werden mehr als doppelt so viele Mädchen missbraucht) geschieht unter Ausnutzung eines Autoritäts-, Abhängigkeits- oder Vertrauensverhältnisses.
In vielen Fällen wird, wenn ein sexueller Missbrauch entdeckt oder erkannt wird, sehr oft dem Täter mehr geglaubt als dem Opfer: "Wird schon selbst auch schuld sein", lautet oft das vorschnelle Urteil, vor allem, wenn es sich um Jugendliche handelt. Nicht bedacht wird bei solchen Aussagen allerdings, dass Missbrauch oft schon jahrelang stattgefunden hat und zumeist bereits das kleine Mädchen genötigt wurde.
Gleichzeitig können solche Bemerkungen durchaus auch als Beweis für die raffinierte Planung des Vergehens durch den Täter gelten. Denn sexueller Missbrauch ist fast nie eine spontane Tat, sondern wird sorgfältig und langfristig geplant. So werden bewusst oft Partnerinnen gewählt, die mehrere - vom Täter gewünschte - Eigenschaften besitzen: Die Frauen haben ein geringes Selbstwertgefühl, sind der traditionellen Frauenrolle verhaftet und fühlen sich von einem Mann abhängig. Eine Beziehung wird initiiert und ein unverdächtiges "bürgerliches" Image inklusive angeblich großer Kinderliebe geschaffen.
Durch die Verstärkung von Minderwertigkeitsgefühlen und Abhängigkeit bei den Müttern schaffen sich die Männer ein Umfeld, in dem sie nach Lust und Laune ihre weitere Taktik fortführen können. Natürlich erkaufen sich nicht alle sexuellen Missbraucher über einen so komplizierten Weg das Vertrauen der Frauen. Doch das Muster ist, wie Anita Heiliger vom deutschen Jugendinstitut München in einer Forschungsarbeit festgestellt hat, sehr oft ähnlich. Das Vertrauen - von Mutter und Kind - wird getäuscht. Die Annäherung an das Kind erfolgt langsam, aber systematisch. Die zunächst unverfänglichen Berührungen durch den Täter entsprechen dem natürlichen Bedürfnis des Kindes nach Zuwendung, Liebe und Geborgenheit. Gleichzeitig wird die Wahrnehmung des Kindes über gute und schlechte, kindgerechte und übergriffige Handlungen getrübt.
Ort und Zeitpunkt des sexuellen Übergriffes werden sehr genau geplant. Um die Mutter zu "entlasten", passt der Täter auf das Kind auf. Und missbraucht es.
Leise Hilferufe nicht wahrgenommen
Ab diesem Zeitpunkt fährt der Täter mehrere Strategien gleichzeitig: offene Gewalt ergänzt die subtile Gewalt, mit der das Kind eingeschüchtert, ihm die Verantwortung für die Tat auferlegt und es von möglichst allen Außenkontakten isoliert wird.
Lena wurde seit ihrer frühesten Kindheit sexuell missbraucht. Der Täter hatte das Mädchen massiv unter Druck gesetzt: "Sag ja nix, sonst bring ich deinen Hasen um!" Die Signale, die sie ihrer Mutter zu schicken versuchte, wurden von dieser nicht als Warnung oder Hilferufe wahrgenommen, Verhaltensauffälligkeiten wie ihr Bettnässen ebenso wenig.
Mit zwölf der erste Suizidversuch. Um den immer noch stattfindenden sexuellen Missbrauch zu ertragen, betäubte sich Lena mit Drogen und riss mit 15 von zuhause aus. Sie schlief in Parks und Abbruchhäusern - ständig begleitet von der Angst, entdeckt und von der Polizei wieder nach Hause gebracht zu werden. Um Geld für Drogen zu bekommen, ging sie auf den Strich. Geld gegen "Ware". Die bezahlte "Ware" wurde benutzt, und danach weggelegt. Indem sie gefühllos wurde, sich buchstäblich neben ihren Körper stellte, schützte sich Lena. Diese Strategie machte es ihr möglich, zu überleben.
Diese Geschichte klingt wie schlecht erfunden, doch sie ist wahr. Lena hatte das Glück, dass sie nach unzähligen Aufenthalten in der Psychiatrie endlich von jemandem ernst genommen wurde.
Lena ist mittlerweile erwachsen, lebt in Salzburg und sagt von sich selbst: "Nur weil der Täter aufgehört hat, ist der Missbrauch noch lange nicht vorbei. Missbrauch ist nicht heilbar."
Kinder werden instrumentalisiert für die Bedürfnisse der Übergreifer. Sie erleben sexuellen Missbrauch als Enteignung ihres Körpers und erfahren, dass sie über diesen nicht mehr selbst bestimmen können, dass ihr Körper jederzeit verfügbar zu sein hat.
Die vielfältigen Überlebensstrategien wie Ess-Störungen, Drogensucht oder Selbstverletzungen, wie das Einritzen der Arme mit dem Messer oder einer Rasierklinge, sind Versuche der Betroffenen, wieder Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen.
Zu wenig Schutz in der Therapie
Studien und Untersuchungen im angloamerikanischen Raum, in Deutschland und am Krankenhaus Hollabrunn/NÖ gehen davon aus, dass zumindest 50 % der Frauen und Mädchen, die in der Psychiatrie landen, missbraucht wurden. Der tatsächliche Anteil dürfte bei rund 80 % liegen, da nicht alle Frauen und Mädchen die erfahrene Gewalt thematisieren (können).
Gerade die Psychiatrie könnte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die massive sexuelle Gewalt gegen Frauen aufzudecken. Dennoch begegnen auch Ärzte und Psychiater (der überwiegende Teil ist nach wie vor männlich) den Erkenntnissen über den Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und psychischer Beeinträchtigung weiterhin mit Abwehr oder Bagatellisieren: Nur das aktuelle Krankheitsbild wie zum Beispiel schwere Depression oder Suizidversuch wird behandelt, die wahre Krankheitsursache hingegen wird mit Medikamenten zugedeckt.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass Frauen rund drei Mal so viele Psychopharmaka verschrieben werden wie Männern. Zudem wird Frauen in der Psychiatrie nur selten ein geschützter Raum zur Verfügung gestellt, den sie für ihre Heilung aber dringend benötigen würden.
Sexuelle Übergriffe durch Mitpatienten, Pflegepersonal, aber auch Psychiater und Psychologen finden immer wieder statt: Nach empirischen Untersuchungen in Kliniken geben bis 17 % der Betreuer und Psychiater zu, sexuelle Kontakte zu Missbrauchs-Patientinnen zu unterhalten. Retraumatisierung statt Heilung.
Seit Mitte der 80er Jahre existieren Präventions-, Behandlungs- und Therapiekonzepte, die auf die geschlechtsspezifischen und kulturellen Unterschiede eingehen. Auch im deutschen Sprachraum. Umgesetzt werden sie allerdings nur langsam.
Literaturhinweise zum nebenstehenden Artikel
"Sexuelle Gewalt"
Männliche Sozialisation und potentielle Täterschaft
Anita Heiliger und Constance Engelfried
Campusverlag"Zart war ich - bitter war´s"
Handbuch gegen sexuelle Gealt an Mädchen und Jungen
Ursula Enders
Zartbitter
Köln"Ich dachte, du bist mein Freund"
Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen
Marie Wabbes
Brunner Verlag, GießenKinderbücher zum Thema:
"Das große und das kleine Nein"
Gisela Braun und Dorothee Wolters
Verlag an der Ruhr
Mühlheim"Schön blöd"
Ein Bilderbuch über schöne und blöde Gefühle
Ursula Enders und Dorothee Wolters
Anrich VerlagSpeziell für Mädchen ab 14 Jahre gibt es das Video "Bitterklee", das von den Überlebenden eines sexuellen Missbrauchs selbst konzipiert wurde. Mädchen und Frauen berichten von ihren Erfahrungen und formulieren Kritik an dre Gesellschaft, die sexuelle Gealt und Unterdrückung hervorbringt.
Das Video kann bei der Selbsthilfegruppe "Überlebt", für Frauen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen, Teresa Lugstein,
Tel. 0664/ 52 100 68, email: mobile.gipsambulanz@aon.at entliehen werden. Dort gibt es noch weitergehende Infos zum Thema Missbrauch und zu Selbsthilfegruppen.