... Reinhard Müller bedauert,
dass der Name Marie Jahoda für viele fast ausnahmslos mit
der in den 1930er-Jahren durchgeführten Studie "Die
Arbeitslosen von Marienthal" als Synonym steht. Im Nachlass
sind nun Studien aufgetaucht, die sie nie oder nur in Teilen
veröffentlicht hat. DER STANDARD konnte in die umfangreichste
exklusiv Einsicht nehmen: "The process of education at Vassar
College". Jahoda untersuchte 1950 die Zustände an dem
College im US-Bundesstaat New York.
Müller vermutet, dass
man sich mithilfe der Wissenschafterin das Renommee der Mädchenschule
bestätigen lassen wollte. Jahoda ging ans Werk, arbeitete
in dem für sie typischen Methodenmix und förderte Unerfreuliches
zutage: schwere Organisationsmängel; der Unterricht sei
unzureichend, ergaben Befragungen der Schülerinnen - auf
deren Bedürfnisse werde nicht eingegangen. Es fand sich
eine Dominanz von Werten, die mit jenen eines "liberal arts
college" nicht vereinbar waren. Es waren "lauter Kleinigkeiten,
die Jahoda fand, aber sie bedeuteten ein mächtiges Minus"
für das College, resümiert Müller.
Was danach passierte, ist für
Müller einer der zentralen Umstände, aus denen die
geringe Zahl der Publikationen Jahodas erklärbar ist: Die
Collegeleitung bat sie dringend, ihre Ergebnisse nicht zu veröffentlichen.
Sie willigte ein - mit der Bedingung, Verbesserungsvorschläge
sofort umzusetzen. So geschah es, und Jahoda fasste später
zusammen: Eine Publikation der Ergebnisse hätte nie denselben
Nutzen erbringen können.
Ziel trotzdem erreicht
Das Ziel ihrer mehrere Hundert
Seiten umfassenden Studie war also dennoch erreicht. Müller
fand in einer späteren Korrespondenz den Hinweis, dass Jahoda
mit der Umsetzung ihrer Ergebnisse auch zufrieden war. Diente
es dem höheren Zweck, verzichtete Jahoda also auf Veröffentlichungen,
"auch wenn das ihrer eigenen Karriere schadete", analysiert
Müller. ...