Marie Jahoda

Im Artikel "Leben für die Veränderung, nicht für die Reputation" (Der Standard, 12.2.2003, S 25) berichtet Andrea Waldbrunner über die Aufarbeitung des Nachlasses von Marie Jahoda durch den Historiker Reinhard Müller. Der folgende Textauschnitt veranschaulicht die soziale Einstellung Frau Jahodas bei der Umsetzung ihrer Arbeit:

 

... Reinhard Müller bedauert, dass der Name Marie Jahoda für viele fast ausnahmslos mit der in den 1930er-Jahren durchgeführten Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" als Synonym steht. Im Nachlass sind nun Studien aufgetaucht, die sie nie oder nur in Teilen veröffentlicht hat. DER STANDARD konnte in die umfangreichste exklusiv Einsicht nehmen: "The process of education at Vassar College". Jahoda untersuchte 1950 die Zustände an dem College im US-Bundesstaat New York.

Müller vermutet, dass man sich mithilfe der Wissenschafterin das Renommee der Mädchenschule bestätigen lassen wollte. Jahoda ging ans Werk, arbeitete in dem für sie typischen Methodenmix und förderte Unerfreuliches zutage: schwere Organisationsmängel; der Unterricht sei unzureichend, ergaben Befragungen der Schülerinnen - auf deren Bedürfnisse werde nicht eingegangen. Es fand sich eine Dominanz von Werten, die mit jenen eines "liberal arts college" nicht vereinbar waren. Es waren "lauter Kleinigkeiten, die Jahoda fand, aber sie bedeuteten ein mächtiges Minus" für das College, resümiert Müller.

Was danach passierte, ist für Müller einer der zentralen Umstände, aus denen die geringe Zahl der Publikationen Jahodas erklärbar ist: Die Collegeleitung bat sie dringend, ihre Ergebnisse nicht zu veröffentlichen. Sie willigte ein - mit der Bedingung, Verbesserungsvorschläge sofort umzusetzen. So geschah es, und Jahoda fasste später zusammen: Eine Publikation der Ergebnisse hätte nie denselben Nutzen erbringen können.

 

Ziel trotzdem erreicht

Das Ziel ihrer mehrere Hundert Seiten umfassenden Studie war also dennoch erreicht. Müller fand in einer späteren Korrespondenz den Hinweis, dass Jahoda mit der Umsetzung ihrer Ergebnisse auch zufrieden war. Diente es dem höheren Zweck, verzichtete Jahoda also auf Veröffentlichungen, "auch wenn das ihrer eigenen Karriere schadete", analysiert Müller. ...