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Das geeignete soziale Umfeld. Reicht das?

Arno Niesner am 10. Juni 2012, 12:41

Arno Niesner

Wie wir wissen, werden wir in unserem Denken und Handeln durch unsere natürliche, soziale und kulturelle Umwelt beeinflusst. Unsere unbeeinflusste Entscheidungsfreiheit ist womöglich Schimäre, jedenfalls ist sie auf bewusster Ebene einigermaßen gering. Ich frage mich daher schon seit langem, inwieweit ein oekosoziales Wirtschaftsmodell als Angebot für ein soziales Umfeld ausreicht, um ein gerechteres ökonomisches Handeln so zu unterstützen, dass es auch individuell als gewollt interpretiert werden kann. Um auch selbst eine befriedigende Antwort darauf zu finden, stelle ich diesbezüglich diesen Text zur Diskussion:

Jeremy Rifkin (S 123 f): "Auf allen drei Stufen der menschlichen Bewusstseinsentwicklung - der regligiösen, der ideologischen und der frühen psychologischen - ist die moralische Instanz, zumindest in den Hauptströmungen, entkörperlicht. Die Folge ist eine ständige Diskrepanz zwischen körperlicher Erfahrung und vorgeschriebenem Moralverhalten. Daraus wiederum folgerte man über die Jahrhunderte hinweg eines: Wenn die Natur des Menschen im Streit liegt mit dem, was von den jeweiligen moralischen Instanzen vorgeschrieben ist, dann muss sie, ob mit Zwang oder Überredung, manipuliert und umgeformt werden. Das ist die sogenannte Sein-Sollen-Dichotomie, die Kluft also zwischen dem Verhalten des Menschen, wie es 'ist', und dem, wie es 'sein sollte'. Und so lange man verkörperte Erfahrung als bedeutungslos abtut, wird diese Kluft nicht überwunden werden.
Um sie zu überwinden, bedarf es der Empathie. Empathisches Verhalten basiert auf verkörperter Erfahrung, ist von Ehrfurcht beseelt und setzt sowohl Vernunft als auch Gefühle voraus. Und das empathische Bewusstsein ist gleichermaßen deskriptiv wie präskriptiv. Es unterscheidet nicht zwischen dem, was man ist, und dem, was man sein sollte. Wer sich empathisch in die Gefühle eines anderen hineinversetzen kann, als wäre er dieser andere, lebt sein Leben intensiv und authentisch. Sein Selbst wächst über die Grenzen seines individuellen Seins hinaus. Empathisches Handeln erweitert den Geltungsbereich der Moral. Empathie ist etwas, das wir gleichzeitig spüren und mit dem Verstand erfassen können. Es ist eine Quantenerfahrung. Empathisches Bewusstsein wird nicht durch aufgeherrschte Moralvorschriften geformt, es kann sich nur in einem geeigneten sozialen Umfeld entwickeln. Und es ist die Aufgabe von Politik und Gesellschaft, die Voraussetzungen für ein solches soziales Umfeld zu schaffen."

Die Gesellschaft, das sind doch wir, oder?
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Schürfen "aufgeherrschte Moralvorschriften" nicht noch tiefer ("Meine Mutter hat mir beigebracht, nicht zu stehlen.") als es ein soziales Umfeld je bewerkstelligen wird können? Setzen diese nicht genau dort an, wo unsere individuelle Entscheidungsfindung vorbereitet wird: bei unserem Gewissen? Deshalb möchte ich noch diesen Annex hinzufügen:

Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. (Mt 23,23)

Demnach sind 10 % zu wenig, sie reichen gerade mal, um zu lernen, Gott zu fürchten. Deshalb sind zusätzlich geboten:
a) gleichmäßigere Ressourcenverteilung (Bildung, Einkommensverteilung, ...) > Gerechtigkeit
b) Soziale Leistungen als Geschenke, die Freude bereiten > Barmherzigkeit
c) Kundenbindung > Treue
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13.6.2012 Weitere Anregungen für die Diskussion: Krise macht US-Bürger massiv ärmer > ein selbstgewähltes Schicksal in einer Demokratie > vor Jahrtausenden war das Schicksal der Bevölkerung in Ägypten aus vergleichbaren Gründen zwar noch schlimmer, doch damals konnte das Volk auch nicht alle 4 Jahre seine Regierenden neu wählen ... Was also tun, um die Mehrheit strukturell (psychisch, kulturell, legistisch ...) zu stärken gegenüber den vereinnahmenden Interessen einer Minderheit?
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15.6.2012 Und hier noch eine Studie: Videospiele ändern menschliches Verhalten
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8.7.2012 Kann man jemals frei entscheiden, wie man sein Kind erziehen will?
Auf diese Frage von Rosa Schmidt-Vierthaler (Die Presse, 8.7.2012, S 37) antwortet Haci-Hali Uslucan so: Weltweit erziehen Eltern ihre Kinder so, wie sie selbst erzogen wurden. Das ist eine Grundregel. Aber es gibt Ausnahmen: Personen, die eine pädagogische oder psychologische Ausbildung haben. Oder Personen, die unter ihrer Erziehung gelitten und sie aufgearbeitet haben. In diesem Fall erfolgt eine methodische Brechung udn man erzieht die eigenen Kinder anders, als man selbst erzogen wurde. Ein dritter Aspekt: Migranten erkennen, dass andere Modelle angewendet werden und müssen sich damit auseinandersetzen. Aber die freie Wahl bei der Erziehung ist eine Illusion. Man ist vielen Zwängen ausgesetzt.