Die Kindergärten sind bei uns in Anlehnung an die Schulen in der Regel noch jahrgangsweise organisiert, so dass jedes Kind meist mit einer größeren Zahl fast gleichaltriger Kinder zusammen den Tag verbringt. Dies ist eine im Grunde unnatürliche Situation, gewissermaßen eine übersteigerte Zwillingssituation, die von vornherein das Prinzip der Rivalität in den Vordergrund rückt. Jedes Kind muß um den Platz an der Sonne kämpfen. Diejenigen, die sich durchsetzen, erfahren frühzeitige und für sie wichtige und prägende Erfolgserlebnisse. Aber das ist immer nur die eine Hälfte, die andere kann sich nicht durchsetzen und verliert zwangsläufig das Vertrauen zu sich selbst.

Reinhart Lempp: Die autistische Gesellschaft - Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren?
München: Kösel, 1996, S 163

 

 

Unser Schulwesen wird auch weiterhin nicht darauf ausgelegt sein, die Erziehung hin zu autonomen, selbstbewußten Erwachsenen zu fördern. Ganz offiziell zumindest aus dem Grund, da der Wunsch nach effizienter Wissensvermittlung dem entgegen steht. Ein Jammer, was dadurch an Lebensglück verloren geht.

Die weiteren Gründe, die sich womöglich in vielen schulischen Organisationen tiefenpsychologisch festgesetzt haben, sind meiner Meinung nach bei weitem interessanter und auch verhaltensbeeinflussender.

Es ist mit dem Schulwesen wie mit jeder Organisation. Je länger eine Instititution existiert, umso stärker treten Normen jeglicher Art als zwischenmenschliche Regulierungsmechanismen in den Vordergrund. Ein kreatives Chaos ist so ziemlich das Schlimmste, das sich eine verstaubte Bürokratenseele vorstellen kann. Eingefügt in ein Normenkorsett fühlt sie sich wohl und kennt so zumindest keine Existenzangst. Da dies mit ein Grund gewesen sein könnte, sich in eine Burg zu flüchten, dürften die meisten sehr wohl um angsterzeugende Mechanismen Bescheid wissen. In der Nutzung derselben werden auf "kontrollierbare" Art neue Positionen erarbeitet. Positionen, die zwar nicht auf dem Türschild stehen, doch auf die so manche Seele stolz sein darf. Denn damit sind oftmals Rechte verbunden, die anderen "nicht zustehen".

Im rauen Wettbewerb stehende Unternehmen gehen bankrott, wenn sie nicht auf Dauer fähig sind, den Kundennutzen in den Vordergrund ihrer Bemühungen zu stellen. In einer schnelllebigen Umgebung ist es daher umso wichtiger, sich mit Kreativität, Chaos, laufenden Verhaltensänderungen bewußt auseinander zu setzen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass schulische Einrichtungen den Bedürfnissen der Wirtschaft nicht annähernd gerecht werden können. Die Anpassungsfähigkeit ist nicht ihr primäres Ziel. Schon eher ein Randthema. Vernachlässigbar.

Es würde schon genügen, Veränderungen positiv zu bewerten. Doch wie ist das erzielbar in einer Welt, die in einem Normenkorsett zu Hause ist und dieses als angenehm empfindet?
Haben wir es hier mit einem Knoten zu tun, der nur durch einen Schwerthieb zu lösen ist?
Wenn ja, dann hieße es, alte schulische Institutionen aufzulösen und neue zu gründen.
Für mich durchaus vorstellbar.

In diesem Zusammenhang möchte ich Arno Gruen zitieren:

"Das Ignorieren der Grenzen des Kindes, die Nicht-Anerkennung seines Seins rufen bei dem Kind Angst und Terror hervor. Die, die ihm das antun, sind dagegen der festen Überzeugung, daß sich aus der Begegnung zwischen ihnen und dem Kind ständig mehr zwischenmenschliche Nähe entwickelt. Statt Nähe entsteht aber Abhängigkeit, weil Angst diese hervorruft. Das Kind muß dann alles tun, um diese Angst zu beseitigen. Ein vergebliches Unterfangen, weshalb es für immer an Autoritätsfiguren gebunden und auf diese fixiert bleibt." (aus: Arno Gruen, Der Verlust des Mitgefühls, München: dtv, 4. Auflage, 2001, S 172)