Das gewaltige Lärmen der Lust
Salzburger Nachrichten, 14. Juli 00
Wir dürfen heute der Lust zwar freien Lauf lassen.
Doch Erotik und Verlangen haben es schwer,
sich dabei entfalten zu können.von SYBILLE FRITSCH
Als Popsängerin Nina Hagen Anfang der achtziger Jahre in einem "Club 2"-Talk des österreichischen Fernsehens zeigte, wie eine Frau beim Geschlechtsverkehr garantiert zum Orgasmus kommt - indem sie sich nämlich selbst befriedigt - war der Skandal perfekt. Der Moderator wurde gekündigt.
Als die Strumpffirma Palmers in dieser Zeit ihre Plakatserie mit schlanken Models in schwarzer Unterwäsche startete, gingen wütende Feministinnen auf die Straße. Die Shops wurden boykottiert.
Heute? Von den Litfaßsäulen locken entblößte Frauen in Spitzendessous, muskulöse Männer, bestenfalls mit einem Slip bekleidet. Im Fernsehen gehören Paare vor, während und nach einem Liebesakt ebenso zur Tagesordnung wie Sexualpraktiken in Nahaufnahme und TV-Talkshows, in denen Gerda aus Osnabrück erzählt, wie der Orgasmus mit ihrem Freund nicht zu Stande kam. Das Geschäft mit Sexualratgebern floriert. Pornovideos gibt es en masse, für ein paar Schilling im Laden nebenan.
Aufforderung, Triebe nach
Lust und Laune auszulebenWohin wir uns wenden - der Alltag ist voller Aufforderungen an die Wirklichkeit, sexuelle Bedürfnisse und Triebe nach Lust und Laune auszuleben: "Sex veranstaltet heutzutage einen gewaltigen Lärm, der noch in den abgelegensten Winkel unserer modernen demokratischen Gesellschaft vordringt", vermerkt denn auch der französische Kulturpublizist Jean-Claude Guillebaud in seinem neuen Buch "Die Tyrannei der Lust" und hinterlässt keinen Zweifel: Die sexuelle Revolution hat gegriffen. Die Parolen von damals "Es ist verboten zu verbieten" und "Genießen ohne Fesseln" gehören längst zum Standardprogramm. Wir können sogar behaupten, dass kaum eine Gesellschaft der Sexualität und dem Begehren mehr Platz eingeräumt hat als die unsere.
Freilich zeigt sich nun auch die Kehrseite der Medaille, und seltsame Widersprüche tun sich auf. Die Welt glitzert voller Versprechen, begehren zu können und begehrt zu sein, gleichzeitig wird uns der mit Warten und Erwartungen gepflasterte Weg zwischen Bedürfnis und Befriedigung so radikal verkürzt, dass sich Erotik und Verlangen kaum mehr entfalten können. Die Sexualberatungsstellen sind voll mit Leuten, die sich vergeblich zum Orgasmus quälen.
Wenn man den Kulturbeobachtern Glauben schenken will, dann leben wir in einer Situation: Wir dürfen der Lust zwar freien Lauf lassen, aber leider hat uns die Lust verlassen.
Dies behauptet jedenfalls Jean-Claude Guillebaud: "Unsere aggressiv erotischen Gesellschaften werden von der Schreckensvision des Nichtbegehrens verfolgt", schreibt er. "Dreißig Jahre nach der sexuellen Revolution geht es nicht mehr darum, gegen die Unterdrückung der Lust anzukämpfen, sondern im Gegenteil ihren Bankrott zu verhindern."
Was ist geschehen, dass die Lust eine Last wurde? Dass die jungen Mädchen im Stil der Hollywood-Ästhetik - nach erfolgreicher Emanzipation ihrer Mütter - mit lautem Stöhnen den Orgasmus vortäuschen, ohne das Geringste zu spüren? Dass sich Beziehungen immer mehr über Sex definieren - und scheitern? Und erfolgreiche Leute ins Kloster flüchten?
Wenn Raoul Vaneigem in seinem "Buch der Lüste" erklärt, "früher stürzte man sich in die Vergnügungen wie in einen hoffnungslosen Kampf. Jetzt hingegen stürzen sich die Vergnügungen auf uns", dann trifft er den Nerv der kollektiven sexuellen Zwangsbeglückung und der gesellschaftlichen Norm, lustig zu sein. Es gibt aber noch andere Gründe:
Lust und Begehren sind zum Wirtschaftsfaktor geworden. Ob es sich um Papiertaschentücher oder Autos handelt: mit Hilfe sexueller Versprechen werden Produkte besser an den Kunden gebracht. Auch wurde Sexualität per se zunehmend verdinglicht und käuflicher. Allein in den USA wurden 1996 mehr als acht Miliarden Dollar für Videos, Peepshows, Live-Aufführungen und Kabelprogramme ausgegeben - das übertrifft die Einnahmen der gesamten Hollywoodproduktion.
Auch sonst folgt die verwirtschaftlichte Lust den Mechanismen der Ökonomie: Die Zeichen sind: Vervielfältigung des (sexuellen) Angebotes, Beschleunigung beim Partnerwechsel, erotisches Dumping dank Sextourismus und Prostitution in der Dritten Welt.
Das Leistungsprinzip belastet ohnehin das Lustprinzip - vor allem in intimen Situationen. Doch dank der Informationsgesellschaft wurden unsere Begierden öffentlich. Damit traten wir - zwangsläufig - in einen Wettbewerb wie in einer olympischen Disziplin.
Jetzt messen wir uns mit den anderen und suchen nach Patentrezepten, damit unsere Übung besser gelingt. "Man stellt sich der Lust wie einem Examen - mit Aussicht auf Erfolg oder Misserfolg", polemisiert Vaneigem.
Eines steht jedenfalls fest: Die Liberalisierung der Lust ging auf Kosten der Schamgefühle, obwohl ihr Sinn war, bürgerliche Grenzen zu sprengen, das Comingout intimer Gefühle und sexueller Liebe zum öffentlichen, politischen Akt zu stilisieren. Verbunden mit dem Ziel, eine bessere, freiere, sozial gerechtere Welt zu schaffen.
Doch bekanntlich schläft der Teufel nicht. Erstens machen inzwischen die ehemaligen Feinde des sexuellen Outings das Geschäft mit der Schamlosigkeit. Und zweitens übersehen alle die Sinnhaftigkeit von Schamgefühlen. Nämlich, dass Scham die eigenen Grenzen schützt. Im Verbund mit gesellschaftlichen Werten reglementiert sie das Zusammenleben und gibt Verbote vor, die das kulturell Besondere der jeweiligen Gesellschaft zum Ausdruck bringen.
Hetzerischer Moralismus
als PendelausschlagZurzeit ruft das Vertragsangebot zur Lust eifrige Bekämpfer der sexuellen Belästigung auf den Plan - und einen hetzerischen Moralismus. Voller Hexenjagden auf lüsterne Chefs, die weiblichen Angestellten zu lange auf den Busen schauen. Und auf kleine Jungen, die im Garten mit der Schwester spielen. Diesen Pendel-Ausschlag zu Puritanismus pur interpretiert Guillebaud als "Sehnsucht nach einem verlorenen Gleichgewicht".
Gefährlich wird die Situation jedoch nur dann, wenn unklar ist, wer die korrigierende Rolle übernehmen wird. Reguliert sich die Gruppe selbst? Sind es die Tugendterroristen? Oder geschulte Demagogen, die sich jede Unsicherheit gut und gerne zunutze machen?
Als Antwort können wir dem nur eine kultivierte Lebenshaltung entgegensetzen. Weder Verzicht noch Verfolgung, sondern die Freiheit der Geduld und des Maßhaltens. Im Sinne des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, der seine Theorie auf das Begehren aufbaute. Er illustriert diese Freiheit so: Wenn jemand beim Restaurantbesuch seinen Essenstrieb direkt befriedigen wollte, würde er nach der Brust der Kellnerin grapschen und daran nuckeln. Der kultivierte Mensch greift nach der Speisekarte, gustiert und wartet geduldig, bis das Essen kommt.