Gewissen verpflichtet

Richard Wedenig-Wadani desertierte 1944 von der deutschen Wehrmacht. Ist er ein Landesverräter oder ein vergessenes NS-Opfer? Ein Diskussionsbeitrag, 57 Jahre nach Kriegsende.

Von Wolfgang Sotill

Vieles ist nicht verständlich für Aussenstehende, wenn nicht gleichzeitig auch die Zusammenhänge betrachtet werden. Wolfgang Sotill hat dies in seinem Artikel über Richard Wedenig-Wadani einfühlsam berücksichtigt (erschienen im extrablatt, Kleine Zeitung, 16.6.2002, S 2).

 

Brot, oft trocken, einen Apfel, oft verschrumpelt, und wenn es hoch herging eine Sardinendose. Das war es, was Richard Wedenig jahrelang in seinen Schulranzen gepackt bekam. Mehr gab es nicht, denn die Mutter war eine bescheiden verdienende Näherin, die sich und ihre beiden Söhne im Prag der Zwischenkriegszeit allein durchbringen musste. Der Vater vernachlässigte die Familie, die seinetwegen von Wien nach Prag gezogen war, nicht nur finanziell.

"Diese Armut haben mir fortschrittliche Lehrer zur Schule fürs Leben werden lassen", erinnert sich der heute 80-Jährige. "Sie sammelten von allen Schülern die Jause ein, legten diese zusammen auf einen tisch und verteilten sie unter allen Kindern neu." So kam auch Richard immer wieder zu einem mit Schinken belegten Salzstangerl. Zudem war dies ein wahrer kulinarischer Höhenflug gegenüber dem eintönigen Speisezettel von zu Hause. "Morgens, mittags, abends - bei uns gab es drei Mal am Tag Einbrennsuppe."

Was der kleine Richard in Volks- und Bürgerschule lernt, ist: Teilen, Achtung und Respekt. Tugenden, die durch die ideologische Prägung, die ihm die "Roten Falken" und der ATUS vermitteln, noch bekräftigt werden.

Die "Falken" waren freilich weniger eine ideologische Kaderschmiede als ein gesellschaftlicher Rahmen, in dem der Bub seine Jugendträume ausleben konnte: Die Romantik bei Nachtwanderungen, den Leistungswillen bei Wettkämpfen, das Zusammengehörigkeitsgefühl bei Liederabenden.

Blühende Nachtkerzen äugen über den begrenzenden Jägerzaun, dem wolkenlosen Himmel entgegen.

 

 

 

Wer nach derartigen Erlebnissen und Erfahrungen nicht weiter an sich arbeitet und reflektiert, um seinen eigenen Standpunkt im Leben zu finden wird leicht zum Spielball von Autoritäten. Ohne sich der gegenseitigen Abhängigkeiten bewußt zu sein.

1928/29 - die Jahre der Weltwirtschaftskrise: In der Tschechoslowakei verteuert sich das Leben schlagartig. Die Inflationsspirale dreht sich immer schneller, es kommt zu Massenentlassungen, Demonstrationen, Straßenkämpfen. Richard, mittlerweile 16, hat längst erkannt, dass diese Welt ungerecht ist und dagegen nur eines hilft: Sein "verstärktes politisches Engagement."

Der Anstoß dazu kommt 1934, als Paula Wallisch, die Witwe des obersteirischen Arbeiterführers Koloman W., der im Februar 1934 hingerichtet wurde, im Prager Exil zu den "Genossen" spricht. "Diese Frau hat mir klargemacht, dass es mehr gibt als das, was ich bei den Falken gelernt habe", sagt Wedenig. Und dieses "mehr" bestand darin, "fortan keine schmutzigen Kompromisse zu schließen und in der Umsetzung von Werten offensiv zu sein".

Jeder hätte sagen müssen: An diesem Verbrechen beteilige ich mich nicht.

Richard Wadani

Die Konsequenz des jungen Kämpfers: Er tritt dem kommunistischen "Verband der proletarischen Leibeserziehung" bei. Dort lernt er, was revolutionäre Arbeit heißt: "Gemeinsam mit Kollegen haben wir Plakate affichiert, Korruptionsfälle aufgedeckt, entlassenen Arbeitern geholfen und uns politischen Schulungen unterzogen, in denen wir bereits 1934/35 unterrichtet wurden, dass es im Norden von Deutschland KZ gibt und dass Hitler Krieg bedeutet".

Einen Vorgeschmack darauf sollte es ab 1936 geben, als die Sudetendeutschen, die "zu neunzig Prozent fanatische Nazis waren", beginnen, ihre politischen Gegner mit Steinen zu bewerfen und zwei Gewerkschaftsfunktionäre rücklings zu ermorden. Um Ausgewogenheit bemüht, sagt der Pensionist heute: "Freilich, auch die Benes-Regierung hat Fehler gemacht."

Für den in Ausbildung stehenden Kfz-Mechaniker beginnt Krieg, als er im Oktober 1939 mit 17 Jahren zur Wehrmacht einberufen wird. Dem ersten Einsatz im Osten entkommt er durch eine Nasenscheidewandverkrümmung, die er sich operieren lässt. Und welch ein Glück für den Soldaten, dem das NS-Regime zutiefst zuwider ist: Er infiziert sich im Divisionsspital mit Scharlach, was einen geplanten Einsatz im Feld erneut unmöglich macht.

Aber alle Tricks helfen nicht, der kriegsunwillige Richard-Wedenig kann sich seiner Einberufung nicht auf Dauer entziehen. Und so geht es 1941 als Kraftfahrer des Generalstabes der Luftwaffe gegen Osten. "Wir waren weit hinter der Front und dennoch sahen wir nichts als Tote, Tote, Tote." Tote, von denen er sagt: "Das waren meine Verbündeten gegen Hitler."

Und so tut er, was er als einfacher Soldat tun kann. Er zapft "mehrfach 40 bis 60 Liter Benzin ab" und gibt dieses russischen Zivilisten, damit diese Molotow-Cocktails bauen. Oder er verteilt gestohlene Nahrung unter Hungernden, oder er verhilft Gefangenen zur Flucht. Wedenig sabotiert und unterschlägt, weil er den Krieg und die Nazis hasst. "Jeder Einzelne hätte in diesem Angriffskrieg sagen müssen: An diesem Verbrechen beteilige ich mich nicht."

Andere verstanden darunter lediglich: Dienen, Gehorsam, Pflichterfüllung!

Was immer Wedenig tut, er wird das Gefühl nicht los: "Auch ich bin ein Rädchen dieser Vernichtungsmaschinerie und meine Hilfe für die Russen dient bloß der Beruhigung meines Gewissens."

Radikal konsequent im Denken war Wedenig durch seine ideologische KP-Schulung, aber auch durch seine sportliche Karriere geworden. Er war erfolgreicher Leichtathlet und Geräteturner. Konsequent wollte er auch an der Front sein, weswegen er bereits 1940 beschließt, zu den Russen überzulaufen.

1942 versucht er es das erste Mal. Mit seinem Lkw fährt er an die Front, den zurückweichenden Russen nach, erreicht sie aber nicht: Wedenig wird von den eigenen Soldaten aufgegriffen. Weil er sich aber geschickt erklären kann, wird er ohne weitere Sanktion zu seiner Einheit zurückbeordert.

Lange zwei Jahre muss sich der verhinderte Fahnenflüchtling gedulden, ehe sich erneut eine Möglichkeit zum Frontwechsel ergibt.

Ich war entschlossen, auf meiner Flucht auch auf die eigenen Leute zu schießen.

Richard Wadani

"Es war irgendwo in einem Jungwald in der Normandie. Auf der anderen Seite lagen die Westalliierten. Den Fluchtweg hatte ich schon auspaldowert, aber plötzlich war ich sehr nervös." Dennoch: Um vier Uhr morgens robbt er allein durchs Dickicht. Langsam, mit einem weißen Taschentuch in der Hand und dem beständig geflüsterten "Don´t shoot". Als er dann "den Amis in die Hände fällt", verspürt Wedenig nicht nur Freude. Denn: "Was wird aus meiner Mutter werden? Wird sie stark genug sein zu leugnen, obwohl sie seit 1940 in meine Pläne eingeweiht war? Wie wird sie sich ohne meinen Sold durchschlagen können, den ich ihr als Obergefreiter überwiesen habe?"

Fragen, die wenigstens teilweise unberechtigt sind. Die Wehrmacht behelligt die Mutter nicht. Die Wiener Dienststelle L 62 314 C schreibt ihr nur einen Brief: "Sie werden hiermit in Kenntnis gesetzt, dass ihr Sohn, der Obergefreite Richard Wedenig, am 16. 10. 1944 an der Front in feiger Weise zum Feind übergelaufen ist. Er ist damit zum Verräter des deutschen Volkes geworden. Gezeichnet: Quast, Oberleutnant und Einheitsführer." Seine Mutter findet Wedenig, der nach Kriegsende in einer tschechischen Armeeeinheit nach Wien zurückkehrt, völlig ausgemergelt. "Sie wog nur noch 33 Kilo." Im fortgeschrittenen Alter wird Wedenig, der aus bürokratischem Irrtum nach Kriegsende Wadani zu heißen hat, das Silberne und Goldene Verdienstkreuz der Republik Österreich verliehen. "Aber nicht, weil dieser Staat, der entstanden ist, weil Hitler verloren hat, meinen ganz kleinen Beitrag dazu honoriert hätte, sondern weil ich ein erfolgreicher Bundestrainer des Volleyballverbandes war."

Einer lebensgeschichtlich betrachtet verständlichen Weltanschauung entstammende Worte. Ich bin mir sicher, viele, vor allem jene die gleiches erlebt haben, denken dabei an Hohn und Sarkasmus. Weltanschauungen trennen eben.

Was sich Wadani von der Zweiten Republik, 57 Jahre nach dem Kriegsende, erwartet? "Dass Desertation endlich als Akt des Widerstandes anerkannt wird, und dass damit klar ist, dass auch wir keine Feiglinge und Verräter waren. Und dass wir auch als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt werden." In Deutschland wurde diesen Bitten vor wenigen Wochen entsprochen, in Österreich noch nicht. "Wie lange noch?" fragt Wadani.

Nachsatz: 1968, nach dem Überfall der UdSSR auf die CSSR, tritt Richard Wadani aus der KP Partei aus. Konsequent, wie er immer war.