Leben ohne Chef und Staat

Ich sagte vorhin, Anarchismus sei einfach. Ich gehe noch weiter und sage, Anarchismus sei geradezu naiv. Ein schlimmes Wort, ich weiß. In diesem Zusammenhang wäre eine Rehabilitierung* des Begriffs >naiv< dringend überfällig. Ich will das Wort so verstehen: naiv ist eine geradlinige, unvoreingenommene Herangehensweise an Probleme, wie sie Kindern oft noch eigen ist. Noch. Es ist ja bekannt, daß uns diese Naivität später in der Schule systematisch ausgetrieben wird. Diese Art positiver Naivität ist dem Anarchismus eigen, ich würde sogar sagen, sie ist eine seiner größten Tugenden.

Daß viele Menschen mit einfachen Lösungen für schwierige Sachverhalte ihre Probleme haben, liegt ja nicht unbedingt so sehr an diesen Lösungen als vielmehr an den Menschen: Man macht sich ja sofort lächerlich, wenn man für komplizierte soziale Fragen und Probleme Lösungen vorschlägt, die nicht ebenfalls kompliziert sind. Wir sind es gewohnt, es ist uns anerzogen, in möglichst komplizierten Wegen zu denken. Je komplizierter, desto absurder, je absurder, desto undurchführbarer, je undurchführbarer, desto wirkungsloser sind diese Wege im allgemeinen. Wir kennen das alle aus komplizierten Eingriffen, beispielsweise in dem, was man schamlos >Abrüstungspolitik< nennt. Oder >Kampf dem Welthunger<. Oder >Abbau der Arbeitslosigkeit<. Je komplizierter uns die Zusammenhänge solcher Probleme dargestellt werden, desto weniger funktionieren die komplexen Mechanismen, die Fachleute sich zu ihrer angeblichen Bewältigung ausdenken.
(S 106)

Fortsetzung


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Horst Stowasser, Leben ohne Chef und Staat: Träume und Wirklichkeit der Anarchisten, Berlin: Kramer, 1993

*) Rehabilitieren = die Ehre, den Ruf, die ursprüngliche Bedeutung wiederherstellen.