Von allen Ländern hat Japan
den zweithöchsten Anteil alter Menschen an der Bevölkerung.
Bereits heute benötigen 800 000 Senioren gelegentlich Hilfe,
und eine weitere Million ist behindert. Das japanische Gesundheitsministerium
rechnet schon in naher Zukunft mit einer deutlichen Zunahme dieser
Zahlen. Als Reaktion auf das rasch wachsende Problem haben die
Japaner eine Art "Pflegewährung" eingeführt.
Bei diesem System werden die Stunden, die ein Freiwilliger bei
der Pflege oder Unterstützung alter oder behinderter Menschen
verbringt, auf einem "Zeitkonto" verbucht. Dieses Zeitkonto
wird genau wie ein Sparkonto geführt, der einzige Unterschied
besteht darin, daß die Rechnungseinheiten nicht Yen sind,
sondern Stunden. Mit dem Guthaben des Zeitkontos kann man die
normale Krankenversicherung ergänzen.
|
|
Quelle: Bernard A. Lietaer, a. a.
O., S 155 |
Verschiedene Aufgaben werden
verschieden bewertet. So erhält man beispielsweise für
eine Mahlzeit, die zwischen 9 Uhr und 17 Uhr serviert wird, ein
geringeres Zeitguthaben als für Mahlzeiten außerhalb
dieses zeitlichen Rahmens; auch für Arbeiten im Haushalt
und fürs Einkaufen wird weniger angerechnet als beispielsweise
für Körperpflege. Wir sprachen bereits von dieser Währung
in Zusammenhang mit "Herrn Yamadas Altervorsorge" (siehe
S. 46).
Das Guthaben in der Pflegewährung
kann von den Freiwilligen für sich selbst oder für
jemanden ihrer Wahl innerhalb und außerhalb der Familie
verwendet werden, wann immer entsprechende Hilfe benötigt
wird. Einige private Dienste bieten Freiwilligen, die in Tokio
Pflegedienste verrichten, die Möglichkeit, daß das
Zeitguthaben ihren Eltern zur Verfügung steht, die vielleicht
in einem anderen Landesteil wohnen. Manche bieten einfach ihre
Dienste an und hoffen, daß sie ihr Guthaben nie brauchen
werden. Andere arbeiten nicht nur freiwillig, sondern geben ihr
Guthaben an andere weiter, die es ihrer Meinung nach brauchen.
Für die Beteiligten verdoppelt sich quasi die Zeit. Das
Prinzip funktioniert ähnlich, wie wenn Unternehmer oder
Politiker bei Spendenaktionen die gesammelte Summe verdoppeln:
Mit jeder Stunde Arbeit erhält die Gesellschaft zwei Stunden.
Besonders erfreulich ist, daß
auch die alten Menschen diese Form der Pflege bevorzugen, da
die Qualität der Leistungen höher ist als bei den in
Yen bezahlten Pflegern und Pflegerinnen. Der Name der Währung,
"Hureai Kippu" ("Pflege-Beziehungs-Ticket"),
ist Programm. Sie bietet den alten Menschen ein Lösung,
die ihnen angenehmer ist, denn vielen wäre es peinlich,
um einen kostenlosen Pflegedienst zu bitten.
Die Japaner berichten zudem über
einen deutlichen Anstieg der freiwilligen Leistungen, und das
auch bei Helfern, die gar keine eigenen Zeitkontos eröffnen
wollen. Der Grund könnte sein, daß durch dieses System
alle Freiwilligen das Gefühl haben, ihre Leistungen würden
mehr anerkannt. Damit wäre auch der Einwand widerlegt, daß
durch die Bezahlung von Freiwilligen in Komplementärwährung
diejenigen, die nicht bezahlt werden, nichts mehr machen.
Ende der 90er Jahre gab es auf
lokaler Ebene über 300 Pflegedienste, die nach dem Prinzip
der Zeitkonten arbeiten. Bei den meisten handelt es sich um private
Organisationen wie das Sawayaka Welfare Institute, das "Wac
Ac" (Wonderful Ageing Club, Club für wundervolles Altern,
Active Club) oder das Japan Care System (Japanisches Pflegesystem,
eine gemeinnützige Organisation, die staatliche Zuschüsse
erhält).
Insgesamt betrachtet erweist
sich die japanische Pflegewährung kostengünstiger und
persönlicher als das im Westen übliche System. Warum
nutzen wir angesichts der sich in Europa und den USA abzeichnenden
Überalterung nicht die Erfahrungen, die in Japan gemacht
wurden?
Text entnommen aus: Bernard A.
Lietaer, Das Geld der Zukunft, Riemann Verlag, 2. Auflage, 1999,
S 324 ff, ISBN: 3-570-50008-X |
Linkhinweise:
Lösungsvorschläge
von Martin Schwab in seiner Finanzmarktanalyse
Bereits Wörgl et al. zeigten,
dass ein Ausweichen auf alternative resp. komplementäre
Währungen keine nachhaltige Grundlage für ein gerechteres
Wirtschaftssystem bilden können (Bisherige Ausnahme der
abwertungsgefährdete CHW). Dazu passt auch der Vorstoß der
chinesischen Regierung, virtuelles Geld besteuern
zu wollen.
Anmerkungen zu einer Vision von Jean-Jacques Rousseau |
|
Angeregt durch
die Diskussion mit Karl R., einem selbst betroffenen Pflegebedürftigen
aus Graz schrieb ich am 31. Okt. 2008 diese Zeilen als Reflexion
auf die vorliegende Beschreibung einer Pflegewährung:
Hallo Karl,
Mir ist da einiges
klar geworden: nehmen wir das jetzige japanische Modell, dann
müssen wir uns fragen, wieso erhalten heute Pflegebedürftige
Dienste von ihren Nächsten, ohne vorher selbst jemand anderen
gepflegt zu haben?
Das führt
mich zu der Überlegung, dass wir in den sozialen Dienstleistungen
keine herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Berechnungen
anstellen dürfen, sondern sozialversicherungsrechtlich denken
müssen. Soll heißen, jeder Mensch hat grundsätzlich
das Recht auf Pflege! Dafür verschenkt jede/r
Pflegebedürftige das eigene Guthaben vom oekosozialmarkt.com-Konto
an eine ausgewählte Institution, die dann als Gegenleistung
die Verpflichtung zur Pflege übernimmt. Um den Kontostand
möglichst hoch zu halten sollte der Anreiz dazu darin bestehen,
abhängig vom Kontostand ein Taschengeld zu berechnen, ausgehend
von einem Mindestbetrag.
So, das ist´s.
Danke für deinen Anreiz dafür, darüber nachzudenken.
Ach ja, der versprochene
Link als Beweis, dass die Geschenkökonomie auch formell
funktionieren kann, nicht nur im privaten Familien- und Freundeskreis:
http://www.umsonstladen.at/
Sonnige Grüße
Arno |